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Gilles Deleuze zum 100. Geburtstag (18.1.1925 – 4.11.1975)

von Taccuino Del Vecchio | 18/01/2025 | Die Notizen des Alten | 0 Kommentare

Der Alte hat sich früher in mehr oder weniger amtlichen Funktionen mit Leuten abgeben müssen, die sich selbstbewusst zum Sprecher oder zur Sprecherin anderer Leute erhoben, sich quasi als autorisiertes Sprachrohr für deren Belange und Interessen ausgaben. Das hat im Alten stets ein gewisses Misstrauen erregt.
Deshalb war er sehr erfreut, als er diesen Satzfetzen von Gilles Deleuze lesen durfte, der ihm sehr nahe ans Herz ging:

“(…) the indignity of speaking for others.”

Können/dürfen/sollten Leute und natürlich auch Kinder nicht immer erst einmal für sich selbst sprechen?
Vielleicht liegt ja die Wurzel vielen Übels darin, dass Leute und noch mehr Kinder nur selten für sich selbst sprechen dürfen, weil andere bereitwillig in ihrem Interesse intervenieren?
Dem Alten gefällt, dass Deleuze so fortfährt:
“(…) theory demanded that those involved finally have their say from a practical standpoint.”
(2004) Desert Islands and Other Texts 1953-1974. Los Angeles, Semiotext(e). p. 208
Genau dise Verpflichtung sollen die Beiträge auf sketchblog.lu einlösen.

Gilles Deleuze zeigt aber auch sehr viel einfühlsasme Einsicht in das multilinguale Sprachenlernen wie man es im folgenden Beitrag ´Dem Yasmina seng Geschicht mat de Fairies´aus einem luxemburgischen C1 miterleben darf. Natürlich spricht hier jeder Teilnehmer, ob Lehrerin oder Kind, für sich selbst.

Diese Aufnahme von einer Menge Kinder und ihrer Lehrerin, die – unmittelbar oder an der Peripherie verweilend – diese Geschichte sprachlich gestalten, ist ein Paradebeispiel für Deleuzes und Guattaris Spruch, der den Alten so sehr anspricht:
“To be bilingual, multilingual, but in one and the same language.”
(2004) A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. London, Continuum. p. 108

Wie sieht denn diese gemeinsame Sprache aus?
Die direkten und indirekten Teilnehmer an diesen mehrsprachlichen Dialogen erforschen geradezu im Kollektiv die Möglichkeiten der ihnen zur Verfügung sprachlichen Ressourcen: zögerlich, fragil, testend, experimentierend, dennoch intensiv, in der Gemeinschaft geborgen, was ihnen erlaubt Unsicherheiten und Unvorhergesehenes zu erfahren und zu bewältigen.

In diesem Prozess erfahren die Kinder, aber auch die Lehrerin, die Solidarität einer multilingualen Gemeinschaft, welche in einem leidenschaftlichen und freudvollen, ja fröhlichen Prozess eine Geschichte in der Zielsprache erstellt.
So weben und dehnen die TeilnehmerInnen nach und nach eine besondere Geschichte, die auf ihren spezifischen kulturellen Ressourcen basiert.
Bronwyn Davies beschreibt das so: The learners come to know each other and the languages “(…) through an intimate, social synaesthesia, where the words, the sonority, the affect of one are heard in the ears of the other, but also in their mouths, their eyes, their hearts, their gut (…).”
(2014) Listening to Children – Being and Becoming. Abingdon, Routledge. p. 42

Gilles Deleuze kennzeichnet denselben Prozess als ‘Sprechgesang’, “(…) an echo chamber, like a feed-back loop, in which an idea reappeared after going, as it were, through various filters.”
(1995) Negotiations 1972-1990. New York: Columbia University Press. p. 139)

Für Deleuze ist der ‘Sprechgesang’ eine Art Polytonalität where “(…) processes are becomings, and aren’t to be judged by some final result but by the way they precede and their power to continue (Deleuze, 1995, 142-149).”
Diese spürbare Kraft des Fortgangs und Weitertreibens ist die EINE Sprache, welche in dem Ausschnitt gut hörbar die Produktivität der Kinder und ihren Spracherwerb antreibt.
Deleuze und Guattari bezeichnen eine solche Sprachproduktion als Stammeln, welches linguistische und nicht-linguistische Elemente Seite an Seite stellt und variiert, so dass die Sprachproduktion ungehemmt fließen kann: “It is easy to stammer, but making language stammer is another thing; it concerns placing all linguistic and non-linguistic elements in variation (…) A new kind of redundancy. AND … AND … AND … .” (2004, p. 208)
Die Kinder und ihre Lehrerin produzieren im Kollektiv eine Assemblage von sprachlichen, multilingualen Äußerungen, welche ihren partikularen Stimmen, ihren persönlichen Intonationen und ihren individuellen sprachlichen Wertungen Ausdruck verleihen. Es eröffnen sich faszinierende Räume für das ´Translanguaging´, welches jede Gemeinschaft auf ihre eigene Art gestalten kann und darf.

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