Michail Michailowitsch Bachtin zum 50. Todestag (5.11.1895 – 7.3.1975)
“Perhaps we should read more Bakhtin.” so schloß meine verehrte Lehrerin Margaret Meek-Spencer ihr Seminar am Londoner Institute of Education vor langen, langen Jahren.
Das hat der Alte dann auch getan.
Viele Sätze und Thesen Bachtins haben sich für immer in meinem Kopf festgesetzt, so diese Passage:
«Man in his specific human nature always expresses himself (speaks) that is he creates a text (if only potential). (…) A human act is a potential text.»
(1986) Speech Genres and Other Late Essays. Austin, University of Texas Press. (p. 107)
Die Beiträge der Kinder und Lehrpersonen in diesem Blog veranschaulichen Bachtins Sicht auf vielfältige Weise.
Menschliche Taten, die sie begleitenden Aussagen, Schriften und ´Texte´ im weitesten Sinne erfolgen nie in Isolation. Für Bachtin besteht die Essenz unseres Lebens in der Kommunikation mit anderen Leuten (vielleicht auch Tieren).
Die Kommunikation ist gekoppelt mit einer zu leistenden Sorgsamkeit um die Anderen, denn:
«To be means to communicate. (…) To be means to be for another, and through the other, for oneself. A person has no internal sovereign territory, he is wholly and always on the boundary; looking inside himself, he looks into the eyes of another or with the eyes of another.»
(1984) Problems of Dostoevsky’s Poetics. Minneapolis, University of Minnesota Press. (p. 287)
(Kurz sei angemerkt, dass der Alte natürlich Bachtin die intensive und bereichernde Lektüre der Romane und Texte von Fjodor Dostojewski verdankt.)
Das menschliche Leben ist für Bachtin ein ununterbrochener und nicht zu finalisierender Dialog, der mit allen zur Verfügung stehenden semantischen Mitteln und Körperlichkeiten unermüdlich geführt wird:
«Life by its very nature is dialogic. To live means to participate in dialogue: to ask questions, to heed, to respond, to agree, and so forth. In this dialogue a person participates wholly and throughout his whole life: with his lips, hands, soul, spirit, with his whole body and deeds.» ibid. (p. 293)
In dieser Logik wendet sich Bachtin natürlich gegen die in der Schule dominante und sakrosankte linguistische Sicht auf die Sprachen, welche meist durch kontextlose, sinnlose Übungen rund um isolierte Wörter und Sätze versucht, den Kindern und Erwachsenen Sprachen beizubringen:
«Umso verwunderlicher ist es, daß die Philosophie des Wortes und die Linguistik vorzüglich just diesen künstlichen, bedingten Zustand des aus dem Dialog herausgelösten Wortes ins Auge gefaßt und ihn für den Normalzustand gehalten haben. (…) Jedes Wort ist auf eine Antwort gerichtet und keines kann dem tiefgreifenden Einfluß des vorweggenommenen Wortes der Replik entgehen. Das lebendige, umgangssprachliche Wort ist unmittelbar auf das Wort der folgenden Replik eingestellt: es provoziert die Antwort, nimmt sie vorweg, und formt sich auf sie hin. Obwohl das Wort im Umfeld von schon Gesagtem Gestalt annimmt, ist es gleichzeitig vom noch ungesagten, aber notwendigen und vorweggenommenen Wort der Replik bestimmt. So vollzieht sich jeder lebendige Dialog.»
(1979) Die Ästhetik des Wortes (GRÜBEL, R., Hg.). Frankfurt am Main, Suhrkamp.
(S. 172, 173)
Sinnvolles Sprachenlernen und sinnvoller Sprachgebrauch erfolgen dagegen für Bachtin in Kontexten, die von den Lernenden mitgestaltet und mitintendiert worden sind:
«Jedem Wort sind der Kontext und die Kontexte abzulesen, in denen es sein sozial gespanntes Leben geführt hat; alle Wörter und Formen sind mit Intentionen besetzt. Im Wort sind die kontextuellen (gattungsspezifischen, tendenziösen, individuellen) Obertöne unvermeidlich.» ibid. (S. 185)
Wie Elias Canetti betont Bachtin die Elastizität der Sprachen, die einander befruchten und somit der Fixität entgehen, also, wie für Luxemburg so typisch, einander interanimieren:
«(…) une méthode saine et correcte d’enseignement pratique exige que la forme ne soit pas assimilée dans le système abstrait de la langue, comme une forme toujours égale à elle-même, mais dans la structure concrète de l’énonciation, comme un signe souple et changeant.»
BAKHTINE, M. (V. N. VOLOCHINOV) (1977, 1929) Le marxisme et la philosophie du langage. Paris, Les Éditions de Minuit. (p. 102)
Die Autoren dieses Blogs – Kinder und Lehrpersonen – sind durch ihre ästhetischen Textgestaltungen im weitesten Sinne Autoren ihres eigenen (Sprachen)lernens.
Ihre Stimme trägt den Lernprozess, vielleicht zögernd doch bestimmt, denn sie zeugt von ihren Wünschen, ihrem Trachten und von ihren persönlichen Stimmungen und Schwankungen mittels ihrer bewussten Gestaltungen.
Bachtin beschreibt diese Stimme, diese ´Voice`:
The voice «is the speaking personality, the speaking consciousness. A voice always has a will or desire behind it, its own timbre and overtones.»
IN Michael HOLQUIST (1981) The Dialogic Imagination: Four Essays by M. M. Bakhtin. Austin, University of Texas Press. (p. 434)
Gegen fremdbestimmtes, gewissermaßen bewusstloses Lernen nach vorgegebenen Strategien, Rezepten und Vorschriften setzt Marcia Moraes eine von Bachtins Ideen beeinflusste bilinguale Lernstrategie, die gerade auf die multilingualen Lernprozesse an Luxemburgs Schulen zutrifft:
«(…) each group of students (and teachers) have a myriad of living contexts from which they bring their own responsive understanding and meanings to daily activities in school. Furthermore, each student (and teacher) has a different history regarding the ways of ‘becoming’ a self and ‘naming’ the world. A recipe for teaching and learning erases identities and contexts.»
(1996) Bilingual Education – A Dialogue with the Bakhtin Circle. Albany, State University of New York Press. (p. 132)
Der Alte denkt wie Margaret Meek, dass mehr Bachtin gelesen werden müsste.
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