Und noch einmal Walter Kempowski
Der Alte bewundert die Akribie, mit der Walter Kempowski das Leben dokumentiert, archiviert und darauf aufbauend fundiert kommentiert.
Des Alten Lektüre von Kempowskis Monumentalwerk Der Echolot hat ihm Ideen gebracht, welche auch im Kontext von sketchblog.lu relevant sind.
Die chronologische Nebeneinaderstellung von Dokumenten, Fotos, (kurzen) Filmen, Zeichnungen, usw. aus verschiedensten Quellen sind äußerst fruchtbar, um Diskussionen, Reflektionen und Planungen zu provozieren und weiterzuführen. Kempowski verfährt dabei nach einem dialogischen Prinzip, wobei sich Beiträge und Aussagen auf die anderen im Kontext beziehen, sich also gegenseitig bedingen.
Es entsteht ein kollektives Tagebuch aus multiplen, multimodalen Beiträgen wie es auch auf sketchblog.lu möglich ist.
Es gibt noch viele andere Möglichkeiten der Dokumentation. Kempowski schreibt:
“Ach wie schade, daß man gedruckten Texten nicht Musik unterlegen kann. (…) Kommt mir die Idee, den Bändern auch Fotos beizugeben, Musik, Fotos und Filmer. In Bücher hineingehen wie in einen Irrgarten.”
(2001) Alkor – Tagebuch 1989. München, Albrecht Knaus. S. 129
ImEcholot hat Walter Kempowski solche Vorgehensweisen exemplarisch umgesetzt.
Andere deutet Kempowski an und knüpft damit unmittelbar an seine Lehrerlaufbahn an:
“Ich denke mir für das ‘Echolot’ Transparentseiten aus. Der eigentliche Text, die Überlieferung, wird auf ihnen gedruckt, darunter stehen Ängste und Träume. (…)
Alles, was ich unternehme, ist natürlich absolut ‘unwissenschaftlich’. Allerhand Spiele, mit denen man das ’Lerngut’ unter die Menschheit bringt. – Kindisch? Nun, was ich ihnen da vorgemacht habe, kam aus der Praxis. Falls sie so was machen, werden die Kinder Spaß haben an der Schule (und sie selbst auch!). Und ohne Spaß läuft in der Schule nichts, das müssen sie irgendwann einmal kapieren. Wie herrlich ist es, lachende Kinder zu sehen! (S. 259)
Gerade die Transparentseiten ermöglichen es, durch Auflegen und Entfernen die zeitlichen Dimensionen unseres Erlebens sichtbar zu machen, das Vorher-Nachher.
So kombiniert Walter Kempowski zu jedem Tag multimodale Erzählpartikel, die er Fundstücke nennt:
“Das Wort ´Fundstück´ ist eigentlich das mir gemäße. Ich hebe Erzählpartikel auf, wo immer ich sie finde.”
(2006) Hamit – Tagebuch 1990. München, Albrecht Knaus Verlag. S. 51
Kempowski verweist un beruft sich auf die Verfahrensweisen Arno Schmidts Faktenbesessenheit und quasi fotografischen Erinnerungsmechanismen:
“«Arno Schmidt ist einer meiner Lieblingsautoren. Das hat verschiedene Gründe. Der wichtigste: Er stellt Krieg und Nachkriegszeit ungewohnt unsentimental undeutsch dar. Seine Faktenbesessenheit und seine Schnappschußtechnik heben mich zunächst nur interessiert, dann begeistert und schließlich süchtig gemacht.»
(2008) Somnia – Tagebuch 1991. München, Albrecht Knaus. S. 115
Arno Schmidt schreibt selbst:
“Ausgangspunkt (…) war die Besinnung auf den Prozeß des ‚Sich=Erinnerns‘: man erinnere sich eines beliebigen kleineren Erlebniskomplexes, sei es ‚Volksschule‘, ‚alte Sommerreise‘ – immer erscheinen zunächst, zeitrafferisch, einzelne sehr helle Bilder (meine Kurzbezeichnung: ‚Fotos‘), um die herum sich dann im weiteren Verlauf der ‚Erinnerung‘ ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (‚Texte‘) stellen: ein solches Gemisch von ‚Foto=Text=Einheiten‘ ist schließlich das Endergebnis jedes bewußten Erinnerungsversuches.“
(1995) Essays und Aufsätze. Frankfurt am Main, Suhrkamp.) (IN Hektor Haarkötter (2021) Notizzettel – Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main, S. Fischer. S.362, 363
Kehren wir am Ende dieser fruchtbaren Ansätze für das Schreiben mit den Kindern zum Lehrer Kempowski zurück und lesen, was er uns über unseren herrlichen Beruf und seine zukünftigen Lehrpersonen zu sagen hat:
Wie kann man Studenten begeistern? Man muß selbst begeistert sein. Seit zehn Jahren habe ich sie begeistert zu begeistern versucht. Am Ende blieben es Stockfische. Für mich ist Pädagogik jetzt kalter Kaffee. Sie ´geht´nicht. (…) Es fehlt den Studentinnen die Kinderliebe. Sie kennen gar keine Kinder und interessieren sich offenbar auch gar nicht für sie. (…) Lehrer sein: Kinder glücklich machen, sie zum Lachen bringen, begeistern, ihnen die Angst nehmen, sie zu sich führen. O Gott! Was für ein herrlicher Beruf. Aber dann sieht man die zukünftigen ´Erzieher´, wie sie dasitzen wie Klöße und sich was vormachen lassen, sitzen kloßhaft da und rühren sich nicht. (…) Die Einrichtungsgegenstände dieser Hochschule sind wie für Tobsüchtige hergestellt. (…) Das wäre ja das Allerneueste, daß Lehrer Bücher lesen! Zu Lesungen erscheinen sie jedenfalls niemals. Schüler such nicht. (…) Dazugehören, das ist wichtig (…) Wer gern zur Schule geht, mit dem ist was nicht in Ordnung. Und wie schön und angenehm und herzerfrischend könnte Schule sein. Ich versuche, in Oldenburg davon zu schwärmen. Das steckt niemanden an. Sie nehmen´s für Schwäche. Im Grund verstehen sie überhaupt nicht, wovon ich rede. (…) Wißbegier kann nur aus Mangel entstehen. Und diese Schüler sind von Schule und Fernsehen randgestrichen voll.”
(2006) Hamit – Tagebuch 1990. München, Albrecht Knaus Verlag. S.105, 106, 156, 180, 220, 362
Doch sehr ernüchternd, nicht wahr?
0 Kommentare