Peter Sloterdijk zum 78. Geburtstag (26.6.1947)
Wer viel über den Philosophen und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk erfahren möchte, ist hier gut bedient:
https://petersloterdijk.net/
Den Alten interessieren besonders die Überlegungen Sloterdijks passend zu den Inhalten von sketchblog.lu, denen er in diesem Post nachgehen will.
Sloterdijk schreibt
in (1999) Sphären II – Globen. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
über die menschlichen Stimmungen und Gefühle, welche jeglichen Zugang zur menschlichen Umwelt regulieren und beeinflussen. Wir gewinnen echten Zugang zur Wirklichkeit nur über unsere Stimmungen:
«(…) die Stimmung als die erste Öffnung des Daseins zum Wie und Worin der Welt (…).» (S. 146)
Die ästhetischen Produktionen und Gestaltungen wie sie die Kinder auf sketchblog.lu zeigen sind Generatoren solcher Stimmungen und erlauben eine differenzierte Erfassung und Beschreibung unserer Umwelt. Sloterdijk betrachtet in Anlehnung an Gernot Böhme die ästhetische Tätigkeit als Atmosphärenproduktion.
Die Stimmen und Stimmungen verdichten und befruchten sich im Austausch mit Gleichgesinnten, wenn wir „leben, weben und sind“:
«(…) Stimmungen (…) bilden sich als geteilte Atmosphären – gefühlsbetonte Bewandtnisganzheiten – zwischen Mehreren, die den Nähe-Raum füreinander tönen und einräumen.» (S. 147)
Wann immer die Kinder der Jean-Jaurès Schule ihre ästhetischen Produktionen, Werke und Projekte anderen Betrachtern vorstellen, erwachen ihre Gesichter und verraten ihre Stimmungen:
«(…) Ihre Gesichter sind die Schlagzeilen ihrer Zustände; ihre Gebärden und Stimmungen strahlen Unwetter und Aufklaren ins Gemeinsame ab.» (S. 148)
Peter Sloterdijk hat solche Erfahrungen in der Schule nicht gemacht. So schreibt er
In (2015) Ausgewählte Übertreibungen – Gespräche und Interviews 1993-2012. Berlin, Suhrkamp.:
«Die Schule ist für die meisten Kinder heute die Initiation in eine Lage, in der sie spüren, daß es auf sie nicht ankommt. (…) Die Botschaft heißt: Was immer du von dir selber halten magst, so wichtig bist du nicht.» (S. 122)
Sloterdijk fordert Lernprozesse, die autodidaktischer Natur sind, gar Treibhäuser für autodidaktische Experimente, die der kindlichen Neugier Futter bieten:
«Es geht darum, Menschen in Begeisterungszusammenhänge zu ziehen, (…). Der aus eigenem Antrieb Lernende ist ja kein Autist. Er braucht andere, die ihn anstecken, die neugierig sind, aber ihn nicht belehren oder nur kalt ihren Stoff „vermitteln“. (…) Die Kinder tragen ihre Neugier, ihre Begeisterung, dieses unschätzbare Medium der Vorfreude auf sich selbst, in den Lernvorgang hinein. Diese Vorfreude auf den nächsten eigenen Zustand ist das, worauf es ankommt.» (S. 124, 125)
Peter Sloterdijk findet:
«Die Geste der Einladung ist vielleicht das Wichtigste. (…) Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der Übertragung von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch … kognitionspsychologisch nicht haltbar … und trotzdem ist die Schule um diese Idee herum gebaut, um diesen wahrhaft verfluchten und schädlichen Übertragungsgedanken.» (S. 126)
Sloterdijk hat eine gänzlich andere Sicht auf den Lernwillen der Kinder als es jene Leute haben, die stets auf das Basiswissen und auf die Basisfertigkeiten hinweisen, die es zu erwerben gilt, ehe überhaupt ein produktiver Umgang mit Sprachen zum Beispiel stattfinden kann:
«Man muß respektieren, daß wir es immer mit Menschen zu tun haben, die jeweils in ihrer Weise fertig sind. Bis hierher vollkommen und ohne Mangel. Der nächste Zustand kann nur aus den Eigenleistungen dessen, was schon fertig ist, aufgebaut werden.» (S. 127)
Dann verweist Sloterdijk auf ein Prinzip, das man auch immer wieder mit den Kindern der Jean-Jaurès Schule erlebt, nämlich auf das Prinzip Vorfreude, das er bei seiner eigenen Tochter entdeckt hat:
«(…) die Libido des Wachstums sich darin manifestiert, daß sie sich auf ihren nächsten Zustand freut. Sie freut sich ihres eigenen Werdens. (…) Mit dieser dynamischen Libido, die das eigene Werdenkönnen ausleuchtet, müßte sich die Pädagogik wieder verbünden.» (S. 127)
Die Schule und die mit ihr verbündeten Eltern, so Sloterdijk, verbauen diese Lernliebe der Kinder und verjagt das Leuchten aus dem Gesicht der Kinder:
«Die Schule ist ein Herd der Langeweile und wird von Berufslangweilern betrieben, die die kindliche Intelligenz verleimen, verkleben und beleidigen. (…) Dann aber kommen die Eltern mit ihrem Realismuskonzept, mit ihrem Pessimismus und mit ihren Angstprojektionen und versuchen, diesen Raum didaktischer Wunder klein zu halten und von außen zu kolonisieren. (…) „Geben Sie nicht den Kindern ein falsches Bild vom Leben?“ „Könnten Sie nicht etwas mehr Struktur einbringen?“ „Könnten Sie nicht ein bißchen strenger sein?“. (…)
(S. 128, 129)
Auf solche Weise können Kinder kaum das Lernenkönnen als die beste Chance ihres Lebens erfassen, denn:
«Wir erzeugen heute Situationen für junge Menschen, in denen sie alles an der Hand haben und auf nichts Lust.» (S. 129)
Der Alte findet folgendes Zitat Peter Sloterdijks als Abschluss dieser kleinen Abhandlung höchst bemerkenswert:
Lernende sowie Lehrer sollten ernst bedenken, dass «(…) es ein Privileg ist, sich anstrengen zu dürfen.» (S. 767)
(2004) Sphären III – Schäume. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
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