Ilse Aichinger zum Geburtstag (1.11.1921 – 11.11.2016)
Von der Wichtigkeit des Anschauens und des Nicht-Schreibens
Als ich vor 50 Jahren meinen allerersten Ersatzlehrereinsatz in einem 1. und 2. Schuljahr über mehrere Monate hin mehr schlecht als recht erfüllte, waren der Begriff und die Durchführung des Anschauungsunterrichts bereits am Verschwinden.
Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger hat mir die extreme Wichtigkeit der Anschauung und Betrachtung im Rahmen ihrer Wertschätzung des Nicht-Schreibens eindringlich wieder vor Augen und Ohren geführt, umso mehr als wir diese Prozesse in den Arbeiten der Kinder der Jean-Jaurès Schule bestaunen können.
Für Aichinger bilden gerade die Prozesse der verlangsamten Anschauung und Betrachtung, des unvermeidlichen Staunens und der folgenden Bewunderung den Grundstock jeglicher Schreibarbeit: “Für mich ist eigentlich das Nicht-Schreiben ein großer Teil der Arbeit. Das Schreiben so, wie wenn man erntet. Es ist der letzte Abschnitt der Arbeit, aber das Nicht-Schreiben ist der schwerste, der entscheidenste.(…) Ich bin ja überhaupt für Verlangsamung.”
(Schrift)sprachen bilden sich sinngemäß und sinnvoll erst durch vorausgehende intensive Prozesse des Anschauens, der Beobachtung und der Betrachtung:
Erst auf dieser Grundlage des lautlosen Zusehens, Zuhörens wird die Sprache wieder Laut gewinnen. (…) Vieles von dem, was man spricht, muss mit Schweigen ‘gedeckt’werden. Man sagt ja so viel Banales. Abere es sollte auch immer wieder Stille eintreten. Das ist so, wie wenn man Felder brachliegen lässt, damit sie später wieder tragen. (…) Das Wort Phantasie habe ich schon als Kind gehasst. Ich wollte keine Phantasie, ich wollte die Wirklichkeit genau, so genau es geht. (…) Jemand hat mich einmal gefragt, wie ist ein Baum eigentlich wirklich, und ich dachte: von links, von rechts, von oben, von unten, oder wenn man drinnen steckt oder wenn man oben – ja, wie ist ein Baum wirklich? Das interessiert mich immer noch. Und nicht nur ein Baum.
(…) Früher hatte man dieses altmodische Wort Betrachtung, das meint: genau hinschauen und lange hinschauen. Immer durch dieselben Straßen gehen und warten, bis man etwas entdeckt. (…) Berichte schreiben, nichts Erfundenes. Genau sein. Kleine Dinge beobachten. Details. Punkte. Das Schreiben müsste punktueller sein.” (S. 22, 55, 56, 66, 71, 116, 117, 118)
Ilse Aichinger (2011) Es muß gar nichts bleiben – Interviews 1952-2005. Wien, Edition Korrespondenzen.
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