Bora Ćosić zum 93. Geburtstag (5.4.1932)
Auf einen Sitz hat der Alte Bora Ćosićs Roman Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution an einem langen Abend verschlungen.
Vieles hat den Alten dabei an seine eigene Kindheit erinnert, findet doch die Weltrevolution in der heimatlichen Küche statt, so wie sich auch des Alten Leben bis zum Abitur hauptsächlich in der mütterlichen Küche abspielte.
Auch Ćosićs Dialoge in der Küche beschwören beim Alten Erinnerungen an lang vergangene Zeiten und an ähnlich lautende Ermahnungen und Ratschläge der dort passierenden Gäste.
Bei Ćosić hört sich die Warnungen vor exzessivem Lesen so an,
(1994) Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution. Berlin, Rowohlt – Berlin Verlag:
«Opa warnt mich: „Du kriegst Wasser in den Knien vom vielen Lesen!“
Mama bemerkte: „Besser, als daß er mit dem Fahrrad fährt, unter ein Speditionsauto kommt und tot ist!“» (S. 26, 27)
Weiter:
«Die Tanten wußten alles auswendig, was sie gelesen hatten, zwischendurch schrieben sie am Rand auch Eigenes dazu. Opa bemerkte das und sagte: „Steht nicht schon genug Blödsinn in diesen Schinken!“» (S. 43)
Auch die Laufbahn eines Vielschreibers ist nicht ohne Tücken:
«Der Onkel fügte hinzu: „Ich habe gehört, daß in Rußland alle Gedichte schreiben, aber nachher werden manche von ihnen umgebracht!“ Mama drückte mich fest an sich und sagte: „Gott behüte, werde lieber Schlosser!“» (S. 92)
Alle diese Einwände stören den jungen Schreiberling aber nicht:
«Ich trug mein Gedicht „Der Baum, der ausharren wird“ vor, durch und durch
symbolisch. Während des Vortrags stand ich ganz schief, eine Schulter nach vorne geschoben, wie ich es auf einem Foto von Vladimir Majakovski, rezitierend, gesehen hatte. Opa sagte: „Du wirst noch ein Krüppel!“» (S. 102)
In (2011) Eine kurze Kindheit in Agram. Frankfurt am Main, Schöffling & Co. Schreibt Bora Ćosić viel über die Genese des kindlichen Lesens und Schreibens, welche eng mit dem materiellen Umfeld in Zagreb (Agram) zu tun hat:
«Vielleicht war die Litfaßsäule, ein Kiosk-Zylinder an der Ecke, der von allen Seiten mit Plakaten, Ankündigungen, Programmen des städtischen Lebens beklebt war, das erste öffentliche Lesebuch für das sehend gewordene Kind, Zusammenfassung nicht nur der „Ereignisse“, sondern auch des Lesens, der Sprache. Viele Male denke ich, dass sich diese aufgerichtete Walze bewegt, sich um die eigene Achse dreht, aber nicht ich drehe sie, während ich sie umkreise, vielmehr dreht die ganze Konstruktion den Boden unter mir, bohrt sich in den Asphalt und will alle Nachrichten auf ihrer Oberfläche einer fernen, tief eingegrabenen Zivilisation schicken. Denn vielleicht war das Phänomen der Buchstaben, der Wörter, die ich endlich lesen konnte, ein einmaliges Wissen, nur uns, nur hier, nur in dieser Stadt und nirgendwo sonst bekannt.» (S. 138, 139)
«Die Sprache in ihrer geschriebenen Form wird in meinem fünften Lebensjahr unverhofft zur materiellen Tatsache, vielen kleineren und größeren Gegenständen vergleichbar, sie ist überall und nicht auf Laute beschränkt, die mich in der Zeit meines Analphabetentums auf einen Blinden reduzierten. Von nun an ging es nicht allein darum, etwas zu hören, sondern das Gehörte anzuschauen, sei es in den Riesenlettern von Firmennamen entlang der städtischen Fassaden, sei es in den Wuseltierchen von Buchstaben auf den Seiten mancher Bücher. Es war dieser Effekt, der mich gelehrt hat, dass die materielle Wirklichkeit der umgebenden Erscheinungen, der toten Gegenstände und lebenden Menschen/Tiere, nicht alles ist, es bleibt noch etwas übrig: ihre Beschreibung.» (S. 142)
Intensive Anschauung, eingehende Beobachtung und tiefe Einprägung durch einen (aus)gedehnten Blick münden in die ersten Beschreibungen von Objekten und Phänomenen:
«Damals, bevor ich verstehe, was Beschreibung ist, habe ich so vieles in meiner Seele eingeschrieben, ohne es zu wissen. In diesem Nichtwissen versuche ich mich an der Beschreibung eines Pfirsichs, seiner stufenweisen Durchdringung, Punkt für Punkt. Vielleicht hat sich das in meiner Erinnerung verklärt, ist eine nachgeschobene dadaistische Konstruktion, jedenfalls bilde ich mir ein, dass ich schon in diesem jungen Alter dem Rausch erlag, unvereinbare Details zu kombinieren – meine Mutter wäre in Ohnmacht gefallen, hätte sie in meinen Kopf schauen können. Stufe für Stufe also entferne ich heute erst oder damals schon die pelzige Haut des Pfirsichs, seine samtige Schale, die mich auf der Zunge kitzelt; das ganze Fleisch verwertend entdecke ich den Stein, der wie ein rauer Felsbrocken am Weg liegt. Aber auch er lässt sich, glaube ich, bei dem Vorstoß in immer größere Tiefe mit einem harten Gegenstand zertrümmern, bis der helle Samen aufleuchtet, doch wer könnte behaupten, dass hier Schluss wäre? (Denn da kommt schon der Wurm.) Vielleicht hätte man sich in dieses eine Beispiel weiter vertiefen, es zum einzigen Inhalt der gesamten Geschichte eines Skriptors, genug für ein ganzes Leben, erwählen müssen. Unermüdlich die unabsehbaren Stufen in den Keller hinabsteigend, den Keller des Pfirsichs!» (S. 142, 143, 144)
Die Lektüre, wohl vornehmlich in der Küche stattfindend beschreibt Bora Ćosić in
(2012) Frühstück im Majestic – Belgrader Erinnerungen. München, Hanser. folgendermaßen:
«Aus welcher Materie setzt sich die anfängliche Lektüre eines Fünfjährigen zusammen? Die eigentlich nicht aus Büchern besteht, sondern aus Produktinformationen in Pralinenschachteln, Rollen, in Fläschchen mit Kindermedizin eingewickelt sind, kleinen Prospekten für einzelne Waren in Form von Heftchen – das war die anfängliche Bibliothek, die ich gesammelt habe, zunächst bezaubert von der Form dieser Erzeugnisse und nicht von ihrem Inhalt, dem ohnehin unlesbaren. Ich mochte ein Büchlein, das nur aus Deckeln bestand, ohne dass das Innere drinnen gewesen wäre, weil schon diese Hülle besagte, dass es etwas Gesetztes, Gedrucktes und dann noch Eingebundenes gab, aber was das genau war, als Objekt einer verborgenen menschlichen Tätigkeit, das ahnte ich nur. Das Hin und Her der Menschen meiner Umgebung in den zwei oder drei Zimmern war also nicht alles, ihre ewig gleichen Handlungen im Bad, am Tisch und beim Hinabgehen der Treppen, all das war anscheinend in nacherzählter Form zu finden, aber in was für einer Form nur und in was für einer Nacherzählung nur? Auf diesen winzigen Pappdeckelchen und Papierchen und Hüllchen und Schächtelchen, die verlockender als jedes Spielzeug waren!» (S. 62, 63)
Bora Ćosić ist überzeugt, dass die intensive Anschauung und Betrachtung im lokalen Milieu ausreichen, um uns geschichtlich zu verankern und ein Weltverständnis zu erreichen:
«Vielleicht reicht ja, als Modell, tatsächlich ein einziges solches Belgrader Viertel, ein isoliertes Atoll des städtischen Aufbaus, um die gesamte Geschichte einer Zivilisation, der europäischen, während des zwanzigsten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, zu erklären.» (S. 143)
Zuletzt will ich noch einen Passus aus
(2014) Lange Schatten in Berlin. Frankfurt am Main, Schöffling & Co. zitieren, in dem Ćosić knapp und bündig die Legitimation für die Arbeit der Kinder an ihren ´chef d´oeuvres´, sowie mit ihren Skizzenbüchern, Notizbüchern und Leporellos liefert:
«Phänomene im Projekt sind sowieso immer interessanter als Phänomene, die aus Projekten hervorgehen.» (S. 12)
Nun aber rasant an die Lektüre!
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