Friederike Mayröcker zum Todestag (20.12.1924 – 4.6.2021)
Einen kurzweiligen Nachruf auf die österreichische Schriftstellerin findet man hier:
https://www.emma.de/artikel/die-magierin-friederike-mayroecker-266152
Friederike Mayröcker hat den Alten mit der folgenden Aussage tief beeindruckt:
«Also Verlesungen, Verhörungen, Verschreibungen sind wichtige Elemente der Arbeit.»
IN Klaus Siblewski (2020) Es kann nicht still genug sein – Schriftsteller sprechen über ihre Schreibtische. Zürich, Kampa. (S. 237)
Lehrpersonen sollten diese Einstellung beherzigen.
Das den EMMA-Nachruf begleitende Bild dokumentiert die Schreibumbegung der Autorin. Klaus Siblewski bearbeitet Friederike Mayröcker:
«Deine Wohnung könnte man ja als einen in jeder Ecke sich ausdehnenden Schreibtisch bezeichnen.»
Mayröcker verlinkt dieses überbordende Ambiente mit ihren Schreibprojekten:
«Ja, mit allem, was es hier gibt. Das Ganze hier sind Schreibobjekte, die ich sehen muss. (…) Außerdem verteidige ich die Intimität dieser Räume. Sie sind die große Intimität, die ich habe. (…)
Aber ob jemand beurteilen kann, was hier geschieht, nur wenn er diese Fotos betrachtet, da bin ich mir nicht sicher. (…) Ja, aber ich verlasse auch regelmäßig diese Wohnung und habe ein Notizheft dabei. Ich bin gerne draußen, und wenn mir draußen etwas einfällt, ist das nicht vergleichbar mit Einfällen hier in der Wohnung. Diese Einfälle draußen brauche ich. – Ich bin sehr abhängig von der äußeren Welt.» (S. 238, 243, 244, 245)
Der norwegische Autor Tomas Espedal hat hier die Mayröckerzettelnotierungsmethode dargelegt:
„Diese Zettelnotierungpraxis von Friederike Mayröcker, diese Zettelnotierungsmethode besteht darin, dass Mayröcker Tag und Nacht Notizen macht, auf allerlei Zetteln, die sie über Wochen, Monate und Jahre hin ansammelt; die Zettel hängen an den Wänden, in den Bücherregalen, an den Türen, oder aber sie sammeln sich in Stapeln auf den Schreibtischen, in diesen berühmten Zettelstapeln im Zettelzimmer in der Wohnung in der Zentagasse, Wien, einer Wohnung, die eingerichtet und erschaffen ist, um zu schreiben, eine Installation, ein Arbeitsraum: Schreibtisch, Regale, Bücher, Papier und Blätter in Stößen, Stapeln, Bergen, also ein Papierzimmer, weiß, mit einer schwarzen Gestalt, mitten in all das Weiße platziert; schwarze Jacke, schwarze Hose, schwarzes Haar, das ist die Mayröckerfigur, sie schreibt, notiert auf all diesen Zetteln, die sich im Arbeitszimmer ansammeln, bevor Mayröcker für genau diesen einen Zettel eine Verwendung findet; ein Notat über einen speziellen Grünton, im Park beobachtet oder im Muster einer Tapete oder als Stoffstück in einem Kleid; und jetzt näht die Schriftstellerin diesen Zettel in den Text ein wie ein Stück Stoff in einen Flickenteppich, in dieses Mayröckergewebe von Farben, Düften, Erinnerungen, Gedanken, Lauten in Satzfäden, die gemeinsam eine Romanstickerei bilden, mit Abschriften aus Briefen, Zeitungsnachrichten, Gesprächen und Büchern in dem Webteppich eines Lebens, eines Schreibenslebens, eines Liebeslebens, eines Frauenlebens, zusammengesetzt aus Fetzen und Zetteln, eine Romanfigur und Mechanik, erschaffen durch diese Wienertechnik, diese Zettelnotierungsmethode, die Wittgenstein erfunden und die Mayröcker weiterentwickelt hat; eine Schrift, die sich über ein weites Gelände hin entfaltet, über das Unbekannte hin; den Roman.“
Tomas Espedal, in der Nacht zum 5.6.2021, bevor er morgens von seinem deutschen Verleger die Nachricht vom Tod Friederike Mayröckers erhielt. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt Henkel, mit Erlaubnis des Autors.
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