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Norbert Elias zum Geburtstag (22.6.1897 – 1.8.1990)

von Taccuino Del Vecchio | 22/06/2025 | Die Notizen des Alten | 0 Kommentare

«Sinn und Funktion für den einzelnen hat nur das, was eine Funktion für andere darstellt.»

BNA Photographic / Alamy Stock Photo

Die obige Aussage traf der deutsche Soziologe Norbert Elias in einem Fernsehinterview mit Iring Fetscher, einem deutschen Soziologen der Frankfurter Schule.
Sehr spät abends in den späten 1980zigern, nach einem Basketballtraining, hatte der Alte den Fernseher eingeschaltet und die beiden Soziologen in einem wirklichen Streitgespräch, wie es sie heute leider nicht mehr gibt, erlebt.
Geistesgegenwärtig schaltete der Alte den Videorecorder an und zeichnete diesen vielfach bemerkenswerten Schlagabtausch auf.

Was hat ihn so beeindruckt?
Erst einmal die Gestalt des bereits 90jährigen Elias, im bestimmt sehr warmen Studio mit einem Rollkragenpulli, wie es sie heute auch nicht mehr gibt. Ihm gegenüber der smarte, kostümierte Iring Fetscher.
Mehrfach kommt Fetscher auf Arnold Gehlen und seine Theorien zu sprechen, immer wieder von Norbert Elias unterbrochen mit der Gegenrede: “Das ist von mir, das steht bei mir!” Fetscher versucht es von Neuem und bittet Elias um Zustimmung.
Das ist Elias zuviel, ja zu dumm, hat er doch mehrfach entschlossen abgewinkt. Im Zeitlupentempo nähert sich dessen Hand der Kaffetasse. Norbert Elias führt die Tasse vorsichtig an den Mund heran, schürzt im Zeitlupentempo seine Lippen und beginnt, vorsichtig und intensiv zu trinken. Bis er die Tasse wiederum auf dem Tablett abgesetzt hat, vergehen unzählige, für einen Fernsehregisseur unendliche Sekunden.
Wohl oder übel muss Fetscher auf die Antwort verzichten und eine nächste Frage stellen.
Großes Kino und eine Lektion, wie man Nörgler und Störenfriede mit Grandezza abwimmeln kann!

Doch am meisten hat den Alten dieser Satz des Norbert Elias beeindruckt und überzeugt:
«Sinn und Funktion für den einzelnen hat nur das, was eine Funktion für andere darstellt.»

Was bedeutet dieser Satz, wenn es um Sinn und Funktion von Lesen und Schreiben, um Sinn und Funktion im Prozess des Lesen- und Schreibenlehrens, sowie im Prozess des Lesen- und Schreibenlernens geht?

Kinder begreifen den Sinn und die Funktion des Lesens und Schreibens eigentlich nur, wenn sie Lesen und Schreiben sinnvoll und notwendig mit anderen und für andere durchführen.

Es gibt auf sketchblog.lu viele solche Beispiele.
Für einen Kind wird Lesen und Schreiben notwendig, wenn es sie nutzt, um anderen Kindern anderer Klassen und Zyklen Bilderbücher vorzulesen, eigene Texte vorzustellen, Rollenmodell beim Schreiben und Lesen zu sein, Projekte mit anderen Kindern zu teilen und Beiträge auf sketchblog.lu zu publizieren.

Studierende des Alten haben es einmal verstanden, Lesen, Schreiben und Rechnen in solchem Sinne zu organisieren.
So gingen die Kinder weit über die Grenzen der Schule hinaus, indem sie das Altersheim neben der Schule regelmäßig besuchten und unter anderem folgende Aktivitäten vollbrachten:
– Sie lasen den Älteren und Pflegebedürftigen aus Literatur, Zeitungen und eigenen Texten vor.
– Sie sangen und musizierten für die älteren Mitbürger.
– Sie schrieben Einkaufslisten für die älteren Leute, gingen für sie ins nahe gelegene Einkaufszentrum einkaufen, bezahlten dort eigenständig und lernten somit auch Sinn und Funktion von Rechnungen und Mathematik im Alltag kenne.

Durchforsten Sie selbst, wie die Kinder auf sketchblog.lu mit Sinn und Funktion des Lesens, Schreibens, Rechnens und ästhetischen Gestaltens in unserer heutigen Gesellschaft umgehen!

Norbert Elias selbst hat immer wieder betont, wie sehr die alltäglichen sozialen und politischen Erfahrungen seiner Zeit (so als Soldat und Fabrikarbeiter) seine theoretischen Grundlagen beeinflusst haben. So auch hier:

Der Alte glaubt, dass das auch auf Lehrer zutrifft.

Robert van Krieken fasst die obige, funktionale Sichtweise des Norbert Elias wie folgt zusammen:
Elias «emphasized seeing human beings in the plural rather than the singular, as part of collectivities, of groups and networks, and stressed that their very identity as unique individuals only existed within and through those networks or figurations.»
IN (1998) Norbert Elias. London, Routledge. (p. 55)

Der Alte glaubt, dass das auch auf die Schule zutrifft.

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