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Walter Kempowski zum Geburtstag (29.4.1929 –  5.10.2007)

von Taccuino Del Vecchio | 29/04/2025 | Die Notizen des Alten | 0 Kommentare

Sueddeutsche Zeitung Photo / Alamy Stock Photo

Der Schulmeister Walter Kempowski hat den Alten durch seine gnadenlose und akribische Archiv- und Dokumentationsarbeit tief beeindruckt.

Kempowskis eigene Tagebücher hat der Alte verschlungen, die kollektiven Tagbücher wie das Monumentalwerk Echolot gnadenlos durchgeackert.

Paradox kommt dem Alten vor, dass die Texte Kempowskis zeitweilig mit typisch (deutschen) schulmeisterlichen Bemerkungen gespickt sind, um sich dann aber eigentlich doch sehr undeutsch und fern aller Larmoyanz zur rezenten Geschichte seines Landes nach den Weltkriegen zu äußern. Seinem Habitus scheint demnach niemand so einfach zu entrinnen.

Auch Kempowskis Erinnerungen (Im Block) an seine Inhaftierung in der DDR im Zuchthaus Bautzen entstehen glatt, schnörkellos und ohne Ressentiment vor den Lesern.

In diesem ersten Post zu Kempoiwski will ich mich aber auf den Pädagogen Walter Kempowski beschränken:

“In der Pädagogik gibt es kein Rezept. Jeder Tag stellt einen vor neue Aufgaben, die man selbst lösen muß, kein Mensch kann einem dabei helfen. Mich wundert nur, was man so lange zu studieren hat. Nun gut, eine Methode, wie das Wissen weiterzugeben ist. Aber wo gibt es ein System, den Kindern beizukommen? (…)
Im nächsten Jahr will ich mal versuchen, ob ich mit den Kindern nicht ein bißchen Jazz machen kann, das müßte doch auch gehen. (…) Das ist überhaupt eine ganz schwierige Geschichte. Angefangen vom Zeichendiktat über Lesebuchgedicht zum Schülerlied. Alles im Grunde genommen ganz übler Kitsch und großer Mist, völlig wertlos. (…)
Was die Lesebücher angeht (…) ist erstaunlich, was man den Kindern da anbietet. Den größten Edelkitsch und albernsten Ergüsse. Zum Lesenlernen taugen sie nicht, zum Bilden auch nicht, denn sie verbilden. So was wird genehmigt und (…) in Tausenden von Exemplaren in die Volksschulen gepumpt. (…) Ich lasse die Kinder täglich frei erzählen und greife heraus, was mir lustig und originell erscheint. Das schreibe ich als Lesestück an die Tafel, leicht gestrafft, aber in der Formulierung möglichst so, wie es die Kinder bringen. (…) Die Hauptaufgabe, die man als Pädagoge hat, ist es wohl, an das Eigentliche der Kinder heranzukommen.”
(2012) Wenn das man gut geht! – Aufzeichnungen 1956-1970. München, Albrecht Knaus Verlag. S. 133, 388, 389

Humor und Empathei, Interesse und Begeisterungsfähigkeit sind die Grundvoraussetzungen für pädagogisches Handeln:
”Pädagogen brauchen gar nicht viel zu wissen, aber sie müssen Humor haben und Kinder lieben.”
(2008) Somnia – Tagebuch 1991. München, Albrecht Knaus Verlag. S.245

Johann Gottfried Herder wird zum Schirmherren des Lehrers Walter Kempowski:
“Wir werden alle darüber eins seyn, daß der Verstand junger Leute am meisten, ja einzig, dadurch gebildet werde, wenn man verständig mit ihnen umgeht, zutrauend mit ihnen spricht, u. das wissenschaftliche verständig treibet; daß ihr Herz am meisten, ja einzig, dadurch gewonnen und gelenkt werde, wenn man ihnen ein väterliches, freundschatliches, wohlmeinendes, unverdrossen-redliches gutes Herz zeigt.”
IN Walter Kempowski (2008) Somnia – Tagebuch 1991. München, Albrecht Knaus Verlag. S.245

Offizielle, aseptische, von oben verordnete Lehr- und Lernmaterialien verabscheut Walter Kempowski und fordert begeisterte Lehrpersonen, die den Lerngegenstand ausgehend von den Erlebnissen des Alltages aufbauen und entwickeln:
”Meine Fibel gehört zu de weniger scheußlichen ’Erstlesewerken’, sie ist ein richtiges Buch, kein Zurichtunginstrument. Mit eienr Fibel zu arbeiten, das bedeutet, warmes Leben in eine eiserne Jungfrau zu sperren. Ein Pädagoge sollte nur frei unterrichten, das heißt, mit den Kindern selbst eine Eigenfibel schreiben, an ihren Erlebnissen orientiert. – Wenn ich nichts geleistet habe in meinemLeben, immerhin habe ich etwa dreihundert Kindern das Lesen und Schreiben beigebracht (…) und ich habe sie ‘gewähren lassen’ dabei, und nicht versucht, ihr Bewußtsein zu ändern. (…)
Morgens arbeitete ich für das pädagogische Seminar. Thema ‘Eigenfibel’, das ist die längst in Vergessenheit geratene ‘Hohe Schule’ der Grundschullehrer. Ich verstehe nicht, wie man mit einer gedruckten Fibel zurechtkommen kann. Ich habe mir nach Art der alten Reformpädagogen morgens immer zuerst die Kinder angesehen, bevor ich irgendwelchen ‘Unterrichtsstoff’ auf sie losließ, habe herauszufinden versucht, was sie bewegt, und darauf meinen Unterricht aufgebaut. Wie kann ich ihnen denn eine Leseseite über Schnee zumuten, wenn in der Nacht zuvor ein Bauernhof abgebrannt ist? (…) Erziehungsziel kann meines Erachtens nur sein: Der im Kind angelegten Individualität zum Durchbruch zu verhelfen. Daraus folgt: möglichst wenig eingreifen, viel Zeit lassen und ständig ermuntern (…). (…) umgeben (…) von einer Zone der Muße, in der Pädagogen den Kindern zur Seite stehen. (…)
Die Erfahrungen einer ganzen Lehrergeneration versinken im Nichts. (…)
‘Wir sollten weniger von unseren Schwierigkeiten reden, als von denen, die die Kinder haben’, das ist einer der wichtigsten pädagogischen Grundsätze. (…)
Man muß seine Schüler fordern! Pädagogen müssen auch Egomanen sein, nicht so sehr den Schüler zu verstehen suchen, als sich selbst darstellen. (…)
Weiter in den Tagebüchern von Pepys. Der Vormarsch der Türken in Ungarn, die Pest in London. Ich las die ganze Nacht. Die Alltäglichkeiten sind es, die diese Aufzeichnungen so interessant machen. ‘Kaufte mir heute eine grüne Brille.’ Das ist es. Das macht unser Leben aus. (…) Nur auf Fotos ist Gegenwart sichtbar. (…)
In jedem Zentrumsdorf eine klotzige Kulturhalle plus Hotel. Riesige Schulen, in die die deutsche Jugend hineingetrieben wird. Sie verläßt sie nach dreizehn Jahren Stumpfsinn in völliger Verblödung.”
(1990) Sirius – Eine Art Tagebuch. München, Albrecht Knaus. S. 34, 192, 277, 288, 407, 425, 503, 505

Walter Kempowski hat unzählige Aussagen von Menschen des 20. Jahrhunderts zu ihren Erfahrungen in und mit der Schule, sowie deren Auswirkungen auf ihr Leben, gesammelt und veröffentlicht.
Hier einige davon, die in jedem Leser bestimmt ähnliche Erfahrungen beleben werden:

“Auf dem Dorf? Was der Lehrer den Eltern geraten hat, das haben die gemacht.”
Leiterin einer Versandhandlung (1938)

“Und zu mir sagte er: ´Was? Du bist der Sohn eines Lehrers? Und du kannst das Abc nicht einmal? Da sehe ich aber schwarz!´ Das war ein Schock, den ich nie verwunden hab.” Zahnarzt (1929)

“Ich schrieb am Thema vorbei, um es abzuwandeln, damit es mein Interesse fand.” Redakteur (1933)

“In der Fünften hat sich mal eine Lehrerin neben mich gesetzt und mir was erklärt, was ich nicht verstanden hatte. Das hat mir gefallen. Daß sie sich mir zuwendete. – Das ist dann nie wieder passsiert.” Hausfrau (1935)

“Französisch? Das hieß: Auswendig lernen bis zur Vergasung.” Verlagsvertreter (1918)

“Bei dem mußte man nichts lernen, der unterhielt sich mit uns. (…) Ein Examen gibt kein richtiges Bild. Die einen leisten mehr als sonst, die andern weniger.” Hausfrau (1906)

“An so einfachen Sachen kann unter Umständen ein Leben zerbrechen, an einem Irrtum also.” Geologe (1912)
(1999) Schule – Immer so durchgemogelt. München, Goldmann. S. 60, 61, 95, 137, 152, 191, 200, 206

Deshalb noch einmal Kempowskis Maximen zur Erinnerung:
“´Pädagogik´hat mich eigentlich nie interessiert. Ich wollte nur mit Kindern zusammensein. Pädagogik geht überhaupt nicht. Lieb sein und die Interessen der Kinder befriedigen, das ist alles.”
(2008) Somnia – Tagebuch 1991. München, Albrecht Knaus. S. 234

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