Wilhelm Genazino zum Geburtstag (22.1.1943 – 12.12.2018)
Der Alte hat bereits Posts zu Wilhelm Genazino eingestellt.
Er kann es jedoch dabei nicht belassen und will dem deutschen Schriftsteller noch einmal huldigen, weil er immer wieder Betrachtungen zur Schule und deren Lernbedingungen anstellt.
So auch zu diesem Foto von Willy Ronis mit einer uns allen wohlbekannten schulischen Situation:
Wie beschreibt Wilhelm Genazino diese Bild?
“Wer Pech und nie einen anderen Einfall hat, erzählt ein halbes Leben lang die Geschichte von der gemeinen Klassenkameradin. Wer Glück hat, findet eines Tages diese Postkarte mit einem Foto, das Willy Ronis 1960 in Frankreich aufgenommen hat. Ein erstes Indiz dafür, daß das Mädchen keine Streberin und unser Neid vielleicht von Anfang an gegenstandslos war, ist der Anblick der Zufriedenheit des Mädchens. So schaut niemand, erst recht kein Kind, das andere ausschließen will. Das Mädchen, behaupte ich, empfindet eine neuartige Freude, die mit dem Klassenzimmer und den anderen Kindern gar nichts zu tun hat. Es ist die Freude darüber, schriftliche Zeichen zuerst auf eine Tafel und später auf Papier setzen zu können, Zeichen, die eine Selbstbezüglichkeit begründen, die geschützt werden muß, weil sie eben erst entdeckt und als beglückend empfunden wird. Ich möchte einen weiteren Schritt mindestens für möglich halten. In der Freude am allgemeinen Schreiben erschließt sich dem Mädchen die Freude am eigenen Schreiben – von der, außer ihr, in diesem Klassenzimmer vermutlich niemand etwas ahnt, der Lehrer eingeschlossen.“
(2012) Aus Der Ferne – Auf der Kippe – Bilder und Texte. München, Hanser. S. 40
Über Bilder und ihre Betrachter schreibt Genazino:
“Der Betrachter, der einen Gegenstand anschaut, verknüpft Wahrnehmung mit Empfindung und Fiktion. Alle Bilder schweigen; sobald Menschen sie anschauen, fangen sie an zu sprechen. Im Betrachter sedimentiert sich ein Text. Alle angeschauten Bilder und Gegenstände spekulieren mit unserem verinnerlichten Wissen. Jedes Bild weiß mehr, als es beim ersten Anschauen preisgibt. Der Betrachter ist der, der immer gerade merkt, daß er ein Bild noch länger anschauen muß.“
(2006) Die Belebung der toten Winkel. München, Hanser. S. 43
Gut, dass es Wilhelm Genazino gab.
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